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Das neue Gestern für Morgen?

30. Juni 2007

Stellungnahme der AG Rekonstruktion des BDA, einstimmig angenommen vom BDA-Bundesvorstand auf seiner Sitzung in Kassel am 29. 6. 2007, veröffentlicht am BDA-Tag am 30. Juni 2007 in Kassel

Präambel

Seit dem spektakulären Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche artikuliert sich in vielen Städten Deutschlands der Wunsch nach der Rekonstruktion zerstörter Gebäude und ganzer Stadtlandschaf-ten. Die Architektur wird dabei zum Anwalt eines gesellschaftlichen Rekonstruktionsbedürfnisses, das sich aus der Sehnsucht nach Ordnung und Geborgenheit, nach Kontinuität und Vertrautheit in einer technisierten Welt speist.
Die vielfältigen Wiederaufbaupläne beschränken sich jedoch nicht nur auf herausragende Baudenk-male, sie erstrecken sich zunehmend auf das Kopieren zerstörter historischer Bauten und Straßenzüge. Dabei steht nicht das Wahre und Authentische des Originals im Vordergrund, sondern vielmehr das Inszenieren von Ereignisräumen. Gleichzeitig werden einzigartige Stadtensembles und wertvolle historische Bausubstanz dem Verfall preisgegeben, da bürgerliches und finanzielles Engagement fehlt. Die Suche nach historischer Identität in architektonischen Repliken bei gleichzeitiger Vernachlässigung des vorhandenen baukulturellen Erbes und Diffamierung zeitgemäßer Architektur ist ein elementarer Widerspruch im Verständnis von kultureller Kontinuität.
Die Identität stiftende Wirkung von Städten manifestiert sich in einer ablesbaren Geschichte der Stadt, die durch eine das Bestehende respektierende zeitgebundene Architektur fortgeschrieben wird. Dieses Verständnis formuliert das Wiener Memorandum (2005) der UNESCO-Kommission:
„Unter Berücksichtigung der grundlegenden Definition sollten Stadtplanung, zeitgenössische Architektur und Erhaltung der historischen Stadtlandschaft alle Formen pseudohistorischer Ges-taltung vermeiden, da diese eine Verleugnung des Historischen und des Zeitgenössischen dar-stellen. Es soll nicht eine historische Sicht die andere verdrängen, da Geschichte ablesbar bleiben muss, während die kulturelle Kontinuität mittels qualitätvoller baulicher Eingriffe das höchste Ziel ist.“
Der Bund Deutscher Architekten BDA stellt sich im Bewusstsein seiner Verantwortung der Debatte nach tragfähigen Maximen im Sinne des von der UNESCO formulierten Anspruches. Er will die Ge-sellschaft motivieren, den Mut zu Neuem, den Willen zu einer eigenen, zeitgemäßen Formsprache zu stärken. Die nachfolgenden Thesen dienen einer breiten Debatte, die der BDA als Plattform zusam-men mit anderen Institutionen, Fachleuten und der Öffentlichkeit zum Thema der Erhaltung und des Weiterbauens historischer Bauten und Stadtansichten führen wird.

1. Die städtebauliche Rekonstruktion
Stadt entsteht und entwickelt sich immer in einem gesellschaftlichen und ökonomischen Zusammen-hang. Auf dieser Grundlage verändert sich die Stadt fortwährend. Im Zusammenspiel von öffentlichem Raum und der ihn konstituierenden Bebauung als materielle Zeitzeugen ist die Stadt das kollektive, materialisierte Gedächtnis heutiger Gesellschaften. Kontinuität der Entwicklung ist hier ebenso ables-bar wie historische Brüche.
Veränderte Anforderungen der Nutzer führen zu städtebaulichen und baulichen Anpassungen. Diese können unterschiedlich tief greifen, von der schonenden Weiterentwicklung bestehender Strukturen bis hin zur völligen Neuordnung von Räumen, Bebauung und Eigentum. Die vielfältigen Kriegszerstörungen, gesellschaftlichen und ökonomischen Umbrüche des letzten Jahrhunderts haben zu unwiederbringlichen Verlusten einmaliger Stadtstrukturen geführt. Der Weg von der Kahlschlagsanierung über die erhaltende Erneuerung zur städtebaulichen Rekonstruktion scheint nahe liegend.
Die monofunktionale Gliederung des öffentlichen Raumes (z.B. Flächen für motorisierten Verkehr) kann die Bedürfnisse der Menschen nach Maßstab, Geborgenheit oder Kommunikation nicht immer befriedigen. Die „kritische Rekonstruktion“ historischer Raum- oder Stadtmuster schafft nicht zwangsweise zukunftsfähige Urbanität. Rekonstruierter Städtebau impliziert in vielen Fällen eine rückwärtsgewandte Architektursprache, weshalb Architektur und Städtebau nicht getrennt betrachtet werden können. Der öffentliche Raum strukturiert die Stadt und ihre Bebauung, er ist Grundlage für individuelle und gesellschaftliche Lebensmuster. Von seiner gestalterischen wie funktionalen Qualität hängt die Akzeptanz und die Identifikation der Bürger mit ihrem städtischen Umfeld ab.
Wenn Veränderungen an diesem Grundgefüge der Stadt erforderlich werden, sind vielfältige Anforderungen wie Funktion, Wirtschaftlichkeit, Gestaltqualität, Nutzungsoffenheit und Aneignungsfähigkeit mit einem integrierten städtebaulichen Konzept zu beantworten, das den Genius loci aufgreift, weiterentwickelt oder neu definiert. Bei der Suche nach der tragfähigen Lösung kann das historische stadt-räumliche Repertoire in seiner lokalen Ausprägung wertvolle Hinweise liefern, die zeitgemäß zu übersetzen sind. Die Bewahrung und Entwicklung von stadträumlichen und funktionalen Zusammenhän-gen im Zusammenspiel von Geschichte und Gegenwart macht Historie erlebbar. Dies betrifft sowohl das einzelne Gebäude als auch die Wiederherstellung verlorener Straßenprofile.

2. Die Rekonstruktion von verlorenen Baudenkmälern
Wenn Bauwerke von hoher kulturhistorischer und gesellschaftlicher Bedeutung beschädigt oder zerstört wurden, ist Rekonstruktion in Ausnahmefällen denkbar. Das Gebäude muss in seiner Nutzung dem ursprünglichen Zweck entsprechen. Gerade in der Umgebung authentischer Denkmale muss die Rekonstruktion immer als solche erkennbar sein, um nicht das „Echte“ in seiner Wirkung zu beeinträchtigen.
Die Rekonstruktion zerstörter Gebäude kann nur unter Verwendung von wissenschaftlich ausgewerteten Wort-, Bild- und Sachquellen erfolgen. Dieses Material ist essentielle Voraussetzung, um eine handwerkliche Rekonstruktion zu ermöglichen. Selbst in diesem Idealfall kann nicht davon ausgegangen werden, etwas Verlorenes wiederzubekommen. Die Authentizität des Originals kann nicht erreicht werden. In allen anderen Fällen handelt es sich um neu errichtete Bauwerke, die nur „im Geiste“ mit dem historischen Vorbild kommunizieren.
Der Anspruch an ein neu zu errichtendes Gebäude besteht darin, dass eine zeitgemäße Antwort auf die historische Situation unter Wahrung der Zukunftsperspektiven der Stadt gegeben wird. Für das Bauen in historischer Umgebung gilt danach eine Strategie des Weiterbauens, das auf Kontinuität und Integrität mit dem Bestehenden setzt und aus einer präzisen Analyse des Ortes eine Neubebauung entwickelt.
Jegliche Rekonstruktion von zerstörten Gebäuden darf nicht zu Lasten der an diese Stelle getretenen Bauten gehen, wenn dies aus Motiven eines sich geänderten Zeitgeschmacks erfolgt.
Der BDA steht für eine Architektur, welche die Historie des Ortes weder verfälscht noch ganze Epo-chen aus dem Geschichtsbild verbannt. Die sinnentleerte Rekonstruktion entzieht der Geschichte ein eigenständiges Zeugnis der Gegenwart und trägt zur Verarmung und Verfälschung unserer europäischen Stadtkultur bei.

Kassel, 30.06.2007